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Odin
Odin ist der – heute auch im deutschen und englischen Spachraum meistverbreitete – nordische Name des Gottes, der auf altdeutsch Wodan und auf altenglisch Voden heißt. Sein Name kommt vom Wort woð, wörtlich "Wut", das aber ursprünglich allgemein einen Zustand geistig-seelischer Erregung, Energiegeladenheit, Begeisterung und Ekstase bezeichnete, im besonderen aber den Zustand höheren Bewußtseins, den der Schamane und Seher (lat. vates) für seine Aufgaben braucht.
Odin ist der Gott der geistigen Kräfte, des Wissens und der Weisheit. Er ist Magier, Seher, Heiler, Dichter und Entdecker der Runen. Er zeigt sich in der Kraft von Wind und Sturm, im Rauschen der Wälder und allem, was geheimnisvoll mächtig ist. Er heißt Allvater (nord. Alföður), weil er der Vater der Götter und unser mythischer Urahn und Stammesgott ist, dessen Wesen wir eng verwandt sind. Er kennt und erfüllt das Schicksal der Menschen. Daher ist er auch der Gott des Todes, der unser aller Schicksal ist, der Führer der Totengeister und der Beherrscher des Krieges.
Durch seine geistige Überlegenheit als Schamane oder Druide ist Odin der höchste Gott und heißt "der Hohe" (Hár) oder einfach "der Ase" (hinn Áss). In seiner Souveränität ist er Geist, Wille und Weihe. Deshalb verehrten ihn unsere Vorfahren auch als Dreiheit – Odin, Vili und Vé. Andere Namen sind Odin, Hönir und Lodur. Die Dreiheit ist eine druidische Vision, die Einheit und Vielfalt einer Gottheit zugleich erhellt. Die Mutter Erde erschien den Druiden ebenfalls als Dreiheit.
Geburt und mythische Gestalt Odins
Im Mythos sind Odin, Vili und Vé bildhaft Drillinge, die ersten Götter, die als Söhne des Burr, dessen Vater aus dem Ur-Eis wuchs, und der Jötentochter Bestla geboren wurden. Nachdem die Drillinge die Welt geordnet und die Menschen beseelt haben, ist nur noch von Odin allein die Rede.
Odin ist von schöner, eindrucksvoller Gestalt, aber einäugig, weil er ein Auge geopfert hat, um aus der Quelle Mimirs Weisheit trinken zu können. Wenn er durch die Welt wandert, verbirgt er sein leeres Auge unter einem breitkrempigen Hut und ist in einen blauen Mantel geleidet. Er reitet den achtbeinigen Hengst Sleipnir und wird von zwei Wölfen, Geri und Freki, und zwei Raben, Huginn und Muninn, begleitet. Die Raben fliegen täglich durch die Welt und bringen ihm Nachrichten.
Odins Wohnort in Asgard heißt Hliðskjálf (offener Turm) oder Glaðsheimur (Freudenheim). Hliðskjálf wird auch Odins Thron genannt. Von dort blickt er in die ganze Welt. Odin besitzt den Speer Gungnir, der nie sein Ziel verfehlt, und den Ring Draupnir, der sich in jeder neunten Nacht verneunfacht. Sein Gefolge sind 13 Geisterkriegerinnen, die Walküren (Valkyrjar), und die Seelen der gefallenen Krieger, die Einherier, die in Valhall wohnen.
Mit allen diesen Details haben die Dichter Odins Gestalt ausgeschmückt, um den Zuhörern ein Bild seiner Größe und Macht zu vermitteln, wie es der Kultur der Wikingerzeit entsprach. Sie sind aber nicht nur poetische Mittel, sondern auch Symbole: Mantel und Hut sind magische Verhüllungen, die das Geheimnisvolle ausdrücken, der Speer ein magisches Instrument, die Neunzahl der Ringe Odins ein Symbol der Ganzheit, die Tiere alte Totems und schamanische Krafttiere, die Einäugigkeit Odins ein Hinweis auf das "innere Sehen” mit dem "Geistauge” (hugauga), die Walküren Geister des Schicksals, da sie auswählen, wer sterben soll, und Valhall ein Teil von Odins Aspekt als Totengott, der aber oft mißverstanden wird.
Der falsche Ruf Odins als Gott von Kampf und Krieg
Häufig liest man, die Vikinger hätten Odin als Gott von Kampf und Krieg verehrt. Das ist nicht richtig. Sie verehrten ihn – wie alle anderen Germanen auch – als Gott des Geistes und der Magie, als Schicksals- und Totengott und vor allem als höchsten Gott, der die Entscheidung über Krieg und Frieden trifft, Sieg und Niederlage bestimmt und damit Leben und Tod der Krieger in Händen hält. Es ist nur natürlich, daß die Wikingerkrieger diese Aspekte, die sie persönlich am meisten betrafen, besonders betonten. Doch auch in ihrer Sicht ist Odins Bereich nicht der Krieg als solcher, sondern das Schicksal, das sich im Krieg erfüllt – aber ebenso in anderen schicksalhaften Ereignissen. So ist Odin auch nicht nur der Gott der Gefallenen in Valhall, sondern allgemein der Totenführer, wie es der ältere Mythos der Wilden Jagd ausdrückt, in der alle Totengeister unter Führung Odins durch die Nacht reiten.
Odin der Allvater
Der traditionelle Titel "Allvater" (nordisch Alföður) bedeute nicht nur, daß Odin der Vater der Götter ist – er ist vielmehr wie der griechische Zeus der "Vater der Götter und Menschen". Denn die heidnischen Naturreligionen wissen, daß wir, weil wir aus der heiligen und göttlichen Natur stammen, einen angeborenen Anteil am Göttlichen haben. Wir sind keine bloßen Geschöpfe, sondern Angehörige der Götter - von Geburt an und unabhängig davon, ob wir "gut" sind. Das gilt natürlich nicht nur für einige Privilegierte: eine "Herrenrasse" oder ein "auserwähltes Volk" gibt es nicht – alle Menschen stammen von ihren Göttern ab. Odin, der höchste, ist daher unser Allvater, in dem wir unseren Ursprung im Göttlichen verehren. Im gleichen Sinn nannten die Kelten den höchsten Gott Teutates, d.h. Stammesvater.
Odins Weg
Obwohl das Wesen Odins im Geist liegt, sind ihm Magie, Sehertum, Wissen und Weisheit nicht einfach in die Wiege gelegt worden. Die tiefere Einsicht des Heidentums ist, daß auch ein Gott nicht seit jeher vollkommen ist, sondern die Höhe seines Wesens erst erwerben, sich entfalten und durch Mühe und Opfer erkämpfen muß. Odins Weg zu Wissen und Weisheit, zu sich selbst, ist ein dreifacher: Er wird Seher, Dichter und Runenmeister. Dieser dreifache Weg steht über den magischen Künsten, die er einfach gelernt hat: Galdr, die Magie des Worts, und Seiðr, die Imaginations- und Verwandlungsmagie. Beide sind zu einem gewissen Grad erlernbare Techniken, deren Beherrschung noch keinen Weisen macht.
Odin erwirbt Sehertum
Das ist die Geschichte von Odin und Mimir, dem weisen Riesen, der am Fuß des Weltbaums Yggdrasil wohnte. Dort hütete Mimir eine Quelle, deren Wasser Weisheit und Sehertum schenkt. Sie ist die Quelle der Erinnerung, denn im Namen Mimirs steckt dieselbe Wortwurzel wie in memory. Die Weisheit beginnt also mit der Erinnerung an das Wissen der Vorfahren, d.h. nicht mit Lernen allein. Es muß ins Tiefenbewußtsein vorgedrungen sein und aus ihm heraus – von innen – verstanden werden, so als hätte man alles schon früher einmal gewußt und erinnert sich nun daran. Das ist nicht leicht. Um aus der Quelle Mimirs trinken zu dürfen, muß Odin ein Auge opfern und heißt seither "der Blinde". Physische Blindheit ist ein Symbol für das "innere Sehen"; aus dem Tiefenbewußtsein. Mimir wird später im Krieg zwischen Asen und Vanen getötet, es gelingt Odin aber, seinen Kopf am Leben zu erhalten. Der Kopf des weisen Riesen gibt ihm auch weiterhin guten Rat. Daß es eine Quelle ist, aus der Odin sein Sehertum erlangt, hat ebenfalls eine tiefere Bedeutung. Wasser deutet nicht nur auf das Tiefenbewußtsein hin, es kann auch reden. Quellheiligtümer sind daher oft auch Orakelstätten.
Odin erwirbt den Dichtermet
Die Dichtung ist im Heidentum eine heilige Kunst, die mit dem Sehertum, dem Galdr und der Zeichenmagie verwandt ist. Die Dichter, die von Odin inspiriert werden, empfangen Visionen, die keine Phantasie, sondern höhere Wahrheit sind. Daher gaben die keltischen Druiden ihr Wissen ausschließlich in Gedichten weiter, die auch nicht aufgeschrieben, sondern stets nur mündlich, im magischen Sprechgesang, vorgetragen wurden – nur das lebendige Wort sagt die ganze Wahrheit. In druidischen Begriffen erreicht Odin mit der Dichtkunst den Grad des Barden, nachdem er – anders als bei den Kelten – zuerst den Sehergrad, Ovate, erreicht hat.
Die Reihenfolge ergibt sich aus der Rolle Mimirs. Als Odin Dichter wird, ist Mimir nämlich bereits von den Vanen getötet worden. Beim Friedensschluß der Götterstämme wurde aber ein anderes Wesen geschaffen, ein Mann mit Namen Kvasir. Asen und Vanen ließen ihn aus ihrem gemeinsamen Speichel entstehen, d.h. aus der "Substanz” der Sprache und damit der gebündelten Weisheit beider Götterstämme. Doch zwei Schwarzalben, die ihm seine Weisheit neideten, töteten Kvasir und brauten aus seinem Blut den Met, der Odrörir (Geisterwecker) hieß. Der Met, in dem der Geist Kvasirs weiterlebte, kam in den Besitz des Jöten Suttungur. Dessen Tochter Gunnlöd hütete ihn im Inneren eines Berges. Um ihn zu erwerben, muß Odin – weil ein so hohes Ziel männliche und weibliche Kräfte erfordert – einen alten Einweihungsweg agrarischer Göttin- Mysterien beschreiten. Es sind Mysterien der Erde. Als Bauer erntet er, muß dabei die Korngeister töten, dringt weiter in die Erde vor, indem er ein Loch in Gunnlöds Berg bohrt, und wird durch eine magische Geist- Verwandlung selbst zum Erdgeist, verkörpert als Schlange, in deren Gestalt er durch das Loch kriecht. Im Berg schließlich weiht ihn Gunnlöd ein. Er verbringt drei Nächte mit ihr und darf dreimal von Odrörir trinken. Mit jedem Schluck trinkt er ein Drittel des Mets. Dann verwandelt er sich in einen Adler und fliegt nach Asgard zurück. Odins Einweihung in die Dichtkunst ist nach Art der Göttin-Mysterien also eine Heilige Hochzeit – ein Transformationsritus, der männliche und weibliche Kräfte vereint und Männer an der Heiligkeit der Großen Göttin teilhaben läßt. Der Kaiser von Japan wird durch die Hochzeit mit der Sonnengöttin zum Gott, Odin durch die Hochzeit mit Gunnlöd zum Dichter.
Odin findet die Runen
Die höchste Einweihung erfährt Odin durch die Runen, die er nur finden kann, indem er sich selbst opfert, stirbt und wiedergeboren wird. Deshalb heißt er "Gott der Gehenkten" (Hangatýr). Er muß sich am Weltbaum erhängen und mit dem Speer verwunden, neun Nächte lang hängen bleiben und ohne Essen und Trinken ausharren, bis er herabfällt und auf der Erde die Runen findet. So erzählt es die Edda in Odins Runenlied und nennt die Zauberlieder, die er nun kennt. Er hat den höchsten Grad des Druidentums erworben und vereint alle drei in sich.
Die Runen sind zwar auch eine Buchstabenschrift, aber vor allem magische und divinatorische (in der Weissagung verwendete) Symbole, von denen jedes einen Namen und vielfältige Bedeutungen hat. Runen können als Orakel, zum Heilen, Anrufen von Gottheiten, Erlangen und Bannen von Kräften, Verwünschen, Schützen, Weihen und vieles mehr verwendet werden. Sie sind ein Alphabet höherer Erkenntnis, das alle Geheimnisse Odins in sich birgt. Diese höchste Runenweihe – jenseits der einfachen Runenarbeit, die jeder lernen kann – erfordert einen Reifegrad schamanischer Entwicklung, der eine völlige geistige Transformation bedeutet. Odin erreicht sie durch sein Selbstopfer am Weltbaum.
Dieses Selbstopfer wurde von manchen Mythologen mit der christlichen Kreuzeslegende verglichen, doch es ist etwas ganz anderes. Der Charakter des Sühneopfers, der wesentlich für die christliche Legende ist, fehlt ihm völlig, es dient ausschließlich der Erlangung der Runenweisheit und ist daher – nicht unähnlich dem Lakota-Ritual des Sonnentanzes – ein reiner Akt der Einweihung und Transformation. Das ist der tiefere Sinn dieses und jedes anderen wahren Opfers. In ihm wird eine bestehende Existenzform überwunden und in eine neue, höhere umgeformt. Tod und Wiedergeburt Odins als Gott der Runen bedeuten die Vollendung seines Wesen. Der "alte" Odin, der sich erst entwickeln und reifen mußte, ist gestorben. Er hat, wie es in der Edda heißt, sich selber sich selbst geopfert: sein altes Ich überwunden, damit sich sein ganzes Selbst zu voller Reife entfalten kann.
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